niederrheinisch - nachhaltig 

Freitag, 6. April 2018

Stadtgrün im Wandel: What’s growing on? Wann wird Kempen essbar? 

v.l. Dr. Joachim Bauer, Jeyaratnam Caniceus, Jürgen Ramisch, Peter Jeske

Seit es Städte gibt, gibt es auch einen städtischen Gartenbau. Ging es in der Vergangenheit darum, die störanfällige Versorgungslage mit Lebensmitteln zu verbessern, schwanken seit rund zehn Jahren die Begründungen für neue Gemeinschaftsgärten irgendwo zwischen Weltrettung und Standortmarketing. Die Rede ist von Revolutionsgemüse, von sozialen Bewegungsmeldern, von Experimentierräumen für gutes Leben, von Orten der sozialen Vielfalt und kulturellen Teilhabe, vom Protest gegen Privatisierung und Kommerzialisierung, von Integration und Inklusion oder  von Gesundheitsförderung. Die Impulse reichen vom guerilla gardening über gut organisierte Bürgerinitiativen bis hin zu aus der Kommunalverwaltung angestoßenen Neurorientierungen in der Grünplanung. Auch jenseits des öffentlichen Stadtgrüns ist urbanes Gärtnern wieder in. Kleinräume wie Dachterrassen, Hofzufahrten oder Balkone werden bepflanzt. Stadtimkern oder Baumpatenschaften gewinnen an Bedeutung. Ob es in der vielfältigen Bewegung vorrangig um aktive und transformative Gesellschaftsgestaltung geht oder ob  doch eher die Freude am Gärtnern oder die Lust auf gesundes Essen im Mittelpunkt steht, ist noch offen. Das was der niederrheinische Zivilisationskritiker,  Autor und Gärtner Jürgen Dahl vor 30 Jahren als „ein Stück Natur in kulturelle Obhut nehmen, um in der Welt zu bleiben“ bezeichnete, spielt wohl bei allen Stadtgärtnerinnen und Stadtgärtnern eine Rolle. Der Selbst-Anbau von Obst und Gemüse scheint mit einem Selbst-Abbau von Entfremdung einherzugehen.  Und wenn dabei die Welt auch nicht gerettet wird , so geht es beim urban gardening im Sinne Jürgen Dahls - immerhin noch um ein Stück Leben in dieser Welt.

Seit 2010: Verwaltungsinitiative Andernach als Vorbild

© Jill Wellington - pixabay.com

Vor diesem Hintergrund bot ein Antrag des Kempener Ratsherrn Jeyaratnam Caniceus den Anlass für die VHS-Grenzlandgrün-Veranstaltung „Unsere Stadt blüht auf“ – Wann wird Kempen essbar?", über die die Rheinische Post berichtete. Sie hatte bereits im April 2017 über eine entsprechende Initiative des ehemals grünen, mittlerweile parteilosen Politikers informiert. Die Kempener NABU-Ortsgruppe schloss sich im Januar 2018 dieser Initiative an.

In seinem Schreiben vom 21. Dezember 2017 an den Kempener Bürgermeister bittet Jeyaratnam Caniceus die Stadtverwaltung zu prüfen,  welche rechtlichen Hindernisse einer Bepflanzung vorhandener Freiflächen mit Obst und Gemüse entgegenstehen, welche Freiflächen für eine Bepflanzung in Frage kommen, ob auf vorhandenem Stadtgrün auf Obst, Gemüse und insektenfreundliche Zierbepflanzung umgestellt werden könne, wie ehrenamtliches Bürgerengagement unterstützt werden könne und welche Förderprogramme in Frage kommen. In seiner Begründung geht Caniceus auf die mittlerweile recht bekannte Initiative zur Essbaren Stadt in Andernach ein. Schon 2012 berichtete die Deutsche Welle über die gelungene Initiative des Stadtplaners Dr. Lutz Kosack. Andernach verbindet mit der Essbaren Stadt mittlerweile ziemlich erfolgreich ein Arbeitslosenprojekt mit Klimaschutz, Kommunikation, Kultur und Tourismus. Dr. Lutz Kosack bestätigte dies im Februar 2018 in einem Schreiben an VHS-Grenzlandgrün: „Seitdem 2010 das Projekt gestartet hat, hat sich die Essbare Stadt zunehmend auch zu einem Besuchermagnet entwickelt.“

Sein Kölner Kollege Dr. Joachim Bauer, stellvertretender Leiter des Amts für Landschaftspflege und Grünflächen“ betont: „Die Andernacher Kombination von „Essbare Stadt“ mit einem Langzeitarbeitslosenprojekt ist nicht in jeder Kommune möglich.“ Bauers Motto lautet „Fördern – aber nicht steuern“.

Seit 2016: Kommunal gefördertes Bürgerengagement in Köln

© Alex Vox - pixabay.com

Auslöser für die „Essbare Stadt Köln“ waren politische Beschlüsse. Zunächst forderten acht Bezirksvertretungen die Verwaltung auf, ein Konzept „Essbare Stadt“ zu erstellen und bei der Neuanpflanzung in öffentlichen Grünanlagen essbaren Pflanzen den Vorzug zu geben. Dies wurde auf die gesamte Stadt übertragen. Die Verwaltung bekam 2016 den politischen Auftrag, aktiv auf interessierte Bürgerinitiativen zu zugehen und deren Interessen zu bündeln. Namentlich erwähnt wurde dabei der damals neu gegründete Kölner Ernährungsrat. Er war aus einem Projekt des Vereins „Taste of Heimat“ des Kölner Filmemachers Valentin Thurn entstanden. Der Ernährungsrat beschäftigt sich mit Fragen des regionalen und nachhaltigen Essens und mit der Zukunft der Lebensmittelproduktion in der Stadt. Was in den USA oder Kanada als Food Policy Council etabliert ist, entwickelt sich mittlerweile auch in Deutschland. Seit der Kölner Gründung sind in zahlreichen Regionen weitere Ernährungsräte entstanden, die sich als Nichtregierungsorganisation auf lokaler Ebene für eine Ernährungswende hin zu einer nachhaltigen, ökologischen Lebensmittelversorgung stark machen. Manfred Böttcher: „Einen kommunalen Ratsausschuss für diese Schlüsselfrage des guten Lebens gibt es ja nicht.“

Neben dem Kölner Ernährungsrat verlieh der umfangreiche städtische Obstbaumbestand der Entwicklung der Essbaren Stadt Köln den nötigen Schwung. Hilfreich war und ist auch ein Ökolandwirt, der Pachtflächen vermietet und interessierte Bürger und Bürgerinnen an das Thema ökologische Lebensmittelproduktion heranführt. Auch die Stadt Köln unterbreitet ihren Bürgern und Bürgerinnen, die über den berühmten „grünen Daumen“ verfügen, Möglichkeiten sich gärtnerisch zu betätigen, z.B. in Schulgärten. Im Jahre 2016 schlossen sich die in Kölner Gemeinschaftsgärtner(innen) zu einem Kölner Netzwerk zusammen, um auf der Grundlage des Urban Gardening Manifests eine eigene Interessenvertretung zu etablieren.

Dr. Joachim Bauer: „Bei der Essbaren Stadt Köln geht es nicht nur um eine Aufwertung kommunaler Grünflächen, sondern es geht um Förderung und Vernetzung von Gemeinschaften und Bürgerinitiativen.“ Er verweist auf das diesjährige BarCamp „Köln wird essbar – Machst Du mit?“ Es trage mit dazu bei, Bürgerengagement für nachhaltige Lebensmittel- und Saatgutversorgung zu fördern und Distanzen zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft abzubauen.

Als neues Projekt kündigt Dr. Bauer die „Gartenlabore“ an. Sie wollen einen Beitrag zur Vernetzung der klassischen Kleingärten mit den Gemeinschaftsgärten leisten, indem neue öffentlich zugängliche und multifunktionale Formen des Nutzgartens geschaffen werden. Das Projekt ist Teil eines  EFRE-geförderten Gesamtprojekts zur „Grünen Infrastruktur“.

Solche Initiativen sind nicht passgenau auf das eher ländlich strukturierte niederrheinische Grenzland übertragbar. Für ein Konzept „Essbare Stadt Kempen“ lohnt sich daher ein Vergleich zwischen Köln und dem Klever Land. Ein Grundbedürfnis nach guter Ernährung und einer menschenwürdigen Esskultur gibt es schließlich im urbanen und im ländlichen Raum. 

Seit 2014: Freude am Handeln und Mut zur Unvollkommenheit in der Region Kleve

Der in der Stadt Kleve und in Bedburg-Hau aktive Verein „Essbares Klever Land“ entstand am Küchentisch von Herbert Looschelders, der gemeinsam mit Guido Burmann und der 2016 verstorbenen Journalistin Annette Henseler die Idee entwickelte, das eher städtisch orientierte Gemeinschaftsgartenkonzept auf den ländlichen Raum zu übertragen. Der Gärtner Jürgen Ramisch war von Anfang an von der Idee angetan: „Ziel ist es, wieder mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir manche Dinge gesünder und besser selber anbauen können anstatt sie nur als Fertigprodukt in Supermärkten zu kaufen.“ So genannte Bedarfsveranstaltungen stießen bei Klever Bürgerinnen und Bürger auf ausreichendes Interesse, so dass eine Gruppe um Jürgen Ramisch und Herbert Looschelders den Verein gründete. Mit finanzieller Unterstützung der Herbert-Looschelders-Stiftung, kommunalen Gestaltungsverträgen und dem Know How von Jürgen Ramisch begannen Interessierte am Dechantshof in Bedburg Hau und am Spoyufer in der Klever Innenstadt mit dem gemeinschaftlichen Gärtnern. „Im Mittelpunkt stehen Spaß und Freude am Gärtnern. Wir haben den Mut zur Unvollkommenheit und schließen Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters ein.“

Den in offenen Gemeinschaftsgärten oft befürchteten Vandalismus kann Ramisch nicht bestätigen: „Das war bisher kein Thema.“

Eine Besonderheit des Klever Konzepts sind seit 2015 gemeinsame Kochabende in einer von einem Möbelhaus gesponserten Küche im Haus der Looschelders-Stiftung. Dort werden unter Anleitung von bekannten Köchen die gemeinschaftlichen Ernteerträge gemeinsam verarbeitet und gegessen. Auch in diesem Halbjahr sind wieder vier kostenlose Kochabende angekündigt – auch wieder mit speziellen Kochpaten.

Mitgliedsbeiträge erhebt der Verein nicht. Es geht ihm um Nachhaltigkeit, d.h. um Vielfalt soziale Inklusion, Permakultur und Biodiversität. Ramisch: „Unser Antrag und unsere Ideen zu einem bienen- und insektenfreundlichen Kleve stießen bisher auf positive Resonanz. Besucht hat uns schon die ehemalige Umweltministerin Barbara Hendricks und eine Delegation der SPD Geldern, die nach Anregungen für eigene Ideen suchte.“

Ramisch bietet interessierten Kempener Bürgern seine Unterstützung an. Er könne sich sogar vorstellen, dass die Looschelders-Stiftung bei den Sachkosten finanziell aushilft, "wenn die Kempener und Kempenerinnen das nicht selbst hinkriegen".

Seit 2018: Kempener Überlegungen: es einfach tun und langsam wachsen lassen

© RitaE - pixabay.com

Kempen hat rund 200 Hektar öffentliche Grünflächen, davon etwa die Hälfte als so genanntes Begleitgrün für Straßen oder Gebäude. Peter Jeske, Vorsitzender der NABU-Ortsgruppe Kempen, Tönisberg, St. Hubert macht sich seit dem Antrag von Jeyaratnam Caniceus Gedanken, ob und wie ein Konzept „Essbare Stadt“ auch in Kempen umsetzbar ist. "Wir vom NABU wären schon froh, wenn an innerstädtischen Straßen natürliche Wildblumen bis zur Samenreife geduldet würden. Meine Bitte um Bereitstellung einer Blühfläche im Rahmen der Initiative "Deutschland summt" wurde mit Verweis auf die Beibringung eines Pflanzplanes beantwortet, den ich eigentlich erst nach einer Erlaubnis mit weiteren Aktiven entwickeln wollte." 

Wichtigste Voraussetzung für eine "Essbare Stadt Kempen" sei, dass es engagierte, sachkundige und zuverlässige Bürger und Bürgerinnen gebe, die Ansprechpartner seien und die Sache in die Hand nehmen könnten. Die Kommune müsse bei Flächenfreigaben und Gestaltungsvereinbarungen „mitspielen“, die Politik sollte ein derartiges Projekt zum städtischen Natur- und Artenschutz als Kontrapunkt gegen die Versiegelung und Verschotterung des städtischen Raums unterstützen. In Frage kämen innerstädtische Flächen vor den Stadtmauern oder am Spoosweg oder auch in Kempen-Süd, Tönisberg oder St. Hubert. Auch aus dem Publikum des VHS-Grenzlandgrüns-Abends kamen weitere Flächenvorschläge. Ein knappes Dutzend Kempener Bürgerinnen und Bürger erklärte sich am Grenzlandgrün–Abend bereit, an der Essbaren Stadt Kempen mitzuwirken Jeske rät dazu, klein anzufangen zum Beispiel mit Himbeeren oder - wie Ramisch vorschlägt - betreuten Pflanzkisten.

Auch im - in Kempen noch nicht so bekannten -  englischen Todmorden fing „Incredible Edible“ klein an. – mit einem Gemüsegarten und dem Schild „Bedient Euch“. Heute gilt Todmorden als die Gemeinde, in der die Geschichte des Essens und des gesellschaftlichen Lebens umgeschrieben wurde. Schon 2012 schilderte Pamela Warhurst, eine der Initiatorinnen, in den „TED-Talks“ mit Energie und Humor, wie es anfangen und weitergehen kann.

Beim VHS- Grenzlandgrün-Abend wurde deutlich: „Essbare Städte“ können zu einem offiziellen Stadtgrün-Konzept gehören. Im Grünbuch oder im Weißbuch Stadtgrün lieferte das Bundesumweltministerium 2015 und 2017 die Begründungen. Aber Stadt- und Regionalentwicklung wird im niederrheinischen Grenzland noch allzu oft gleichgesetzt mit der Entwicklung neuer Bau- und Wohngebiete. Neues wird daher eher langsam wachsen. Ein Bauer, der will, dass sein Weizen treibt, zieht an den Trieben; am Abend, als die Kinder herbeilaufen, um das Ergebnis zu sehen, ist alles vertrocknet...“

 

Aber was bei Mary Clear und Pamela Warhurst im Umgang mit Bedenkenträgern funktionierte, kann für Kempen und anderswo nicht falsch sein: „Wir reden schnell, lächeln viel und vergessen die Antwort, wenn wir sie nicht mögen. Wir sind mutig, und wenn wir eine Chance sehen, tun wir es einfach." 

 

© Hans Braxmeier - Pixabay.com

 

 

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